Immer Opfer, aber niemals an der eigenen Situation Schuld haben: die „M-Schicht“

Um marxistische Theorien nicht zu beflügeln, unterlasse ich die Verwendung des Begriffs Lumpenproletariat*. Stattdessen werde ich in Zukunft von einer „M-Schicht“ sprechen: M steht hier einerseits für die Mangel, durch die diese Menschen gedreht werden, andererseits für die, oftmals selbstverschuldeten, Mängel an Ausbildung, Allgemeinwissen, Arbeitseinkommen, Anerkennung, gesellschaftlicher (An)Teilnahme. Eine Beschreibung.

Hochgradig ungebildet, besteht das Leben der M-Schicht aus einem täglichen, freilich selbstverschuldeten Kampf. Schlechte Alphabetisierung verhindert eine qualitative Auseinandersetzung mit der Welt jenseits von Facebook-Dummheiten und Gratis-Zeitungen. Mangels Wissens können sie kaum entscheiden, welche Informationen wichtig sind für ihr Leben. Geschweige denn, welche davon wahr sind und welche gelogen. Sie müssen es irgendjemanden glauben. Allerdings wird die M-Schicht deswegen sehr oft übervorteilt oder handelt zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Nachteil. In der Arbeitswelt sind sie oft Mindestlohnbezieher, Langzeitarbeitslosen, Notstandshilfeempfänger, Mindestsicherungsbezieher und Schulungsteilnehmer von Arbeitsagenturen wie dem AMS.
Aber erstaunlicherweise ergreifen viele aus der M-Schicht nicht die Chance, um dazuzulernen. Bildung ist etwas für Schwächlinge, so scheint es. Oder für die „Privilegierten“. Erfolgreichere Menschen dienen der M-Schicht daher nicht als Ansporn, sondern stellen eine permanente Provokation an ihre eigene passive Unzulänglichkeit dar. Großteils ist es reine Angst vor dem Versagen, die an der Motivation knabbert. Viele Personen der M-Schicht haben nur eine einzige Prüfung in ihrem Leben erfolgreich absolviert: den Führerschein mit 18 Jahren. Erfolg darüber hinaus ist nur den anderen zuteilgeworden. Personen der M-Schicht sind stets Opfer: der Umstände, der Zeit, der Globalisierung, der Ausländer, Opfer von „denen da oben“. Niemals hat die M-Schicht selbst Schuld an ihrer Situation. In dem Moment, in dem eine Person einsieht, Fehler begangen zu haben und nach Veränderung strebt, hat sie die M-Schicht verlassen!

Das Fehlen von grundlegende Rechen- und Lesefähigkeiten verhindern z.B. günstige und sinnvolle ökonomische Entscheidungen, ob beim täglichen Einkauf das Aktionsangebot wirklich billig ist oder der Kredit nicht völlig überteuert. Oftmals regiert nach Konsumation blanke Enttäuschung und das Gefühl, schon wieder betrogen worden zu sein. In gesellschaftlich-politischen Bereichen ist es genauso. Die M-Schicht ist lange passiv, nimmt an praktisch nichts teil. Sie bleibt am liebsten in einem für sie beherrschbaren Umfeld, zieht sich, soweit möglich, in eine kleine, überschaubare Welt zurück. Hauptsächlich in Wirtshäuser. Wo sie nicht mit ihren Unzulänglichkeiten belästigt wird. Da reicht die dürftige Allgemeinbildung aus Volks- und Hauptschule gerade noch aus.

Bis die M-Schicht durch ganz gezielte Trigger-Reize erreicht und dann tatsächlich als „Opfer“ angesprochen wird. Plötzlich ist da jemand, der ihre Sorgen versteht und ernst nimmt. Keine Rede davon, dass ein Großteil der Probleme selbstverschuldet ist. Nein, die anderen sind Schuld. Es gibt für jedes Problem eine einfache Lösung. Wer anderes sagt, dem unterstellt die M-Schicht Propaganda und zieht mit Schlagworten wie „Volksverräter“ und „Wir sind das Volk“ in einen Feldzug, deren Inhalte die M-Schicht großteils gar nicht artikulieren kann. Hauptsache, das mangelnde Selbstwertgefühl wird durch Erniedrigung anderer Gruppen, idealerweise irgendwelcher Minderheiten, Randgruppen oder immer noch auch Frauen, ein wenig gehoben.
Eifersüchtig klammert sich die M-Schicht an Transferzahlungen, geförderten Wohnraum und soziale Mindeststandards, deren Bezug ihnen anscheinend als Geburtsrecht zusteht, anderen natürlich gar nicht. Da werden dann Verschärfungen „gegen die Auslända“ bejubelt, die der M-Schicht zu allererst selbst auf den Kopf fallen werden. Was allerdings mangels Bildung und Reflexionsmöglichkeit irgendwie nicht verstanden werden kann oder will. Hauptsache, es gibt irgendein „Wir gegen andere“ Thema. Notfalls auch gegen Hautevolee oder „linke Gutmenschen“. Auch das wird im Wirtshaus hinausposaunt, neuerdings auch im Internet. So entstehen dann die orthografisch und semantisch erbärmlichen Hass-Postings.

Vor Personen der M-Schicht ist zu warnen! Der Mangel an Wissen lässt bei ihnen immer nur einfachste Emotionen zur Entscheidungsfindung zu. Ohne Abwägung von Konsequenzen, ohne Rücksicht auf andere. Denn als Opfer braucht die M-Schicht auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Es sind ja alle gegen sie! So kann eine Gesellschaft natürlich nicht funktionieren. Wenn sich eine doch relevante Bevölkerungsgruppe vom gesellschaftlichen Diskurs verabschiedet, in einer Realitätsblase hockt und alles außerhalb als „Betrug“ betrachtet. Diese Personen sind praktisch verloren für einen vernünftigen Dialog. Jahrelang wurde die M-Schicht links liegen gelassen. Nun wundern sich alle anderen, dass sie rechts abgeholt wurde. Darüber hinaus: Menschen der M-Schicht haben an der Wahlurne dieselbe Stimme wie alle anderen. Und das ist wirklich ein Problem!

*Der Begriff „Lumpenproletariat“ kommt ursprünglich von Marx, ist durchaus umstritten gewesen in den vergangenen Dekaden und meint „jene Vielfalt an Menschen mit unterschiedlicher Klassenherkunft, insbesondere jedoch Proletarier, die auf das unterste Ende der Gesellschaft herabgestiegen sind oder aus ihm stammen und keiner typischen Lohnarbeit nachgehen. Politisch wären sie für Marx oftmals unzuverlässig, passiv und reaktionär, weil meist ungebildet.“
( Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Lumpenproletariat )